Der Reichstag schafft sich selber ab
Das Ermächtigungsgesetz für die Regierung Hitler
Mit der Bewilligung des 'Gesetzes zur Behebung der Not von Volk und Reich' entmachtet sich das Parlament selbst. Nur die SPD stimmt dagegen.
Bei der Reichstagssitzung vom 23. März bringt die kurz zuvor vom Wahlvolk bestätigte Regierung Hitler das ‚Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich‘ zur Abstimmung. Der angebliche Schutz der Nation soll darin bestehen, dass die Gewaltenteilung außer Kraft gesetzt wird: Der Reichstag soll die Zuständigkeit für die Gesetzgebung vollständig auf die Reichsregierung übertragen. Damit würde sich das Parlament seiner Kernaufgabe entledigen, das Prinzip der Gewaltenteilung wäre ausgehebelt. Um die Verabschiedung des Gesetzes zu erzwingen, drohen die Nationalsozialisten unverblümt mit nackter Gewalt: Vor dem Reichstag und im Plenarsaal sind SA und SS aufmarschiert. Angesichts dieses immensen Drohpotenzials sind in der Zentrumspartei und in der Deutschen Staatspartei diejenigen, die gegen das Gesetz stimmen wollen, in der Minderheit. Sie beugen sich der Fraktionsdisziplin und stimmen mit ihren Parteifreunden für das Gesetz. Die Mandate der KPD-Abgeordneten sind vorab auf der Grundlage der Reichstagsbrandverordnung für ungültig erklärt worden. Von den 120 neu gewählten SPD-Abgeordneten wiederum können nur 94 an der Sitzung teilnehmen. Die anderen 26 sind entweder bereits verhaftet worden oder haben sich drohender Verhaftung durch Flucht entziehen können. Auch die drei badischen SPD-Abgeordneten fehlen bei der Sitzung: Der Karlsruher Ludwig Marum und der Freiburger Stefan Meier sind vorab in ‚Schutzhaft‘ genommen worden, der Mannheimer Ernst Roth wurde rechtzeitig gewarnt und ist ins Saargebiet entkommen. Die unvollständige SPD-Fraktion kann die Annahme des Gesetzes zwar nicht verhindern, aber sie kann ein Beispiel des Muts und der Standhaftigkeit geben: Nach einer ergreifenden Rede ihres Vorsitzenden Otto Wels stimmt sie geschlossen gegen die Selbstentmachtung des Parlaments. (ah)